Suchthilfe in der Corona-Krise: “Hier wird Leben gerettet”

Westfalen-Lippe (lwl). Trinken wir in der Corona-Krise mehr Alkohol? Und was macht die aktuelle Notsituation mit drogenabhängigen Menschen?

Zum Weltdrogentag am Freitag (26.6.) erklärt Frank Schulte-Derne von der Koordinationsstelle Sucht des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), warum Corona für suchtmittelabhängige Menschen besonders gefährlich ist.

Stimmt der Eindruck, dass viele Menschen in der Corona-Krise mehr Alkohol trinken?

Frank Schulte-Derne: Für belastbare Daten ist es zu früh. Wir verfügen derzeit nur über Schlaglichter. An der im Mai gestarteten Global Drug Survey, der weltweit größten Umfrage zum Drogenkonsum, nahmen bislang fast 20.000 Personen aus Deutschland teil. 40 Prozent gaben an, sie würden an mehr Tagen in der Woche Alkohol trinken als vor Corona. Teilweise trinken die Menschen größere Mengen und beginnen früher am Tag. Der Tatsache, dass Alkohol auch getrunken wird, um persönliche oder gesellschaftliche Krisen zu bewältigen, kommt während Corona eine besondere Bedeutung zu: Alkohol kann kurzfristig Ängste lösen und zur Entspannung beitragen. Für viele Menschen fallen außerdem Routinen weg, die sie bis jetzt davon abgehalten haben, übermäßig Alkohol zu trinken – zum Beispiel frühes Aufstehen vor der Arbeit oder gleich die Arbeit selbst.

Und wie sieht es mit dem Drogengebrauch aus?

Frank Schulte-Derne: Die europäische Drogenbeobachtungsstelle berichtet, dass der Drogenkonsum in Europa in den ersten drei Monaten zurückgegangen sei. Am stärksten scheint der Rückgang des Konsums bei Kokain und Ecstasy. Der Cannabiskonsum hingegen scheint zuzunehmen – Befragte gaben an, dadurch Langeweile und Angst besser aushalten zu können.

Können Betroffene trotz der Corona-Krise Suchtberatungs- und Suchtbehandlungsangebote nutzen?

Frank Schulte-Derne: Ja, aber mit deutlichen Einschränkungen. Viele Einrichtungen haben auf Notbetrieb umgeschaltet. So wurden etwa Aufenthaltsräume geschlossen und Beratungen erfolgten überwiegend telefonisch oder per Video. Auch Substitutionsbehandlungen, also Drogenersatztherapien, mussten neu organisiert werden. Menschen, die Drogen gebrauchen, zählen häufig aufgrund von Begleiterkrankungen und ihrer körperlichen Verfassung zu den besonders durch Corona gefährdeten Gruppen. Die Aufrechterhaltung der ambulanten und hier vor allem der niedrigschwelligen Suchthilfe in der Krise ist daher sehr wichtig. Die Mitarbeitenden der Suchthilfe sind zwischenmenschliche Rettungsschirme für die Betroffenen.

Sie sprachen die Substitutionsbehandlungen an. Gab es hier große Veränderungen in der Krise?

Frank Schulte-Derne: Ja, es gab Veränderungen und diese waren auch dringend notwendig. Fast 80.000 Menschen sind in Deutschland auf die tägliche Vergabe eines Substitutionsmittels angewiesen. Durch die Corona-Einschränkungen war diese Versorgung zusätzlich gefährdet. Durch Änderungen in der Vergabe- und Verordnungspraxis dürfen Ärzte während der Pandemie nun mehr Patientinnen versorgen. Zudem gab es Lockerungen der sogenannten Take-Home-Regelungen, die es ermöglichen, Substitutionsmittel für einen bestimmten Zeitraum zu verschreiben.

Bereits in Vor-Corona Zeiten ist die Versorgungssituation hier kritisch gewesen und es gab zunehmend mehr Versorgungsengpässe. Daher müssen die jetzt gefundenen Regelungen auch nach der Pandemie gelten.

Wenn wir auf eine Zeit nach Corona schauen, welche Auswirkungen sehen Sie für die Suchthilfe?

Frank Schulte-Derne: Nicht nur während der Krise ist die Suchthilfe systemrelevant in den Bereichen der Gesundheitsförderung, Prävention, Rehabilitation und sozialer Teilhabe. Menschen werden beraten, durch das Hilfesystem gelotst, stabilisiert, behandelt und durch herausfordernde Lebenslagen begleitet. Die Suchthilfe steht in diesen Zeiten vor teilweise existentiellen Herausforderungen. Es muss sichergestellt sein, dass die Klienten auch in der Zeit nach Corona ein institutionelles Unterstützungsangebot haben.

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